"Der Armutsspirale entkommt man nur mit guten Bildungsangeboten." Caritas Abteilungsleiterin Reinhild Mersch begrüßte zur Diskussion über den Kita-Gesetzentwurf für NRW (v.l.) Frank Müller, Annette Berg, Klaus Pfeffer, Barbara Wagner, Ralf Witzel und Sabine Depew.Caritas Essen | Christoph Grätz
Deutliche Kritik an einem zweiten beitragsfreien Kindergartenjahr und flexibel buchbaren Betreuungszeiten haben Vertreter von Caritas und Kommunen im Bistum Essen geübt. Den Kindern aus den armen Familien im Ruhrgebiet sei eher mit mehr Betreuungspersonal und besseren Bildungsangeboten in den Kindertageseinrichtungen geholfen, hieß es bei einem Politik-Talk über den Entwurf eines neuen NRW-Kinderbildungsgesetzes im Haus der Caritas in Essen. Denn Familien mit weniger als 1.500 Euro Monatseinkommen seien in der Regel beitragsbefreit, so dass die geplante Entlastung fast ausschließlich Mittelschichtfamilien begünstige.
Der Essener FDP-Landtagsabgeordnete Ralf Witzel verteidigte den Gesetzesentwurf von NRW-Familienminister Joachim Stamp mit der Notwendigkeit, angesichts hoher Mietpreise auch normal verdienende Eltern zu entlasten und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihren Job auch außerhalb der 9-to-5-Betreuung ihrer Vorschulkinder zu organisieren, um ihren Lebensunterhalt selbständig erwirtschaften zu können. Dass die Lebensrealität vieler Familien im Ruhrgebiet jedoch anders aussieht, erläuterte Annette Berg, Bildungsdezernentin in Gelsenkirchen, wo fast jedes zweite Kind von Leistungen lebt, die seine Eltern über das Jobcenter beziehen: "Diese Kinder brauchen möglichst lange und verlässliche Betreuungszeiten für ihre Bildung, die das Elternhaus oft nicht bieten kann. Mehr Bildung in der Kita käme allen Kindern zugute."
Die geplanten flexiblen Betreuungszeiten stellen auch die Abläufe in den Tagesstätten vor erhebliche Probleme. "Das ist eine Frage von Geld und Personal", erklärte Barbara Wagner, Vorsitzende der Diözesan-Arbeitsgemeinschaft der Tageseinrichtungen für Kinder (DiAG KTK) im Bistum Essen: "Wenn ich in einer dreigruppigen Kita wahlweise drei Betreuungsmodelle mit 25, 35 oder 45 Wochenstunden anbieten soll, wie soll ich dann das vorhandene Personal einsetzen, damit zugleich alle Gruppen ausgelastet und alle Stunden personell abgedeckt sind?"
Laut FDP-Mann Witzel gehen von den zusätzlich geplanten 1,3 Milliarden Euro 200 Millionen in die Finanzierung des zweiten beitragsfreien Kita-Jahres, der Rest in Sprachförderung, mehr Personal und die Platzausbaugarantie. Harsche Kritik an dieser Rechnung übte jedoch der Essener SPD-Landtagsabgeordnete Frank Müller: Das Geld versickere, nach Abzug aller festen Ausgaben blieben lediglich insgesamt 220 Millionen Euro für die Qualitätsverbesserung übrig. Davon jedoch ließe sich nur Betreuung bezahlen, nicht Bildung, "und über Mittagessen aus der Frischküche darf man da gar nicht erst nachdenken", folgerte Müller.
Für Unmut unter den freien Kita-Trägern hatte zuvor gesorgt, dass die NRW-Landesregierung mit den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände im Januar die Eckdaten des neuen Kinderbildungsgesetzes zugunsten der Kommunen verhandelt hatte, ohne die freien Träger einzubeziehen, die immerhin 75 Prozent aller Kita-Einrichtungen in NRW bewirtschaften. "Wir hoffen", sagte der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer an die Adresse von Ralf Witzel, "dass Sie unsere Irritation über diesen Vorgang mit in die Landesregierung nehmen." Schon vor vier Jahren hätten die katholischen Kitas im Ruhrbistum nur mit Unterstützung der Kommunen eine finanzielle Durststrecke überwunden. "Wir wissen nicht, ob wir die Belastungen in Zukunft stemmen können", so Pfeffer. Auch die Essener Diözesan-Caritasdirektorin Sabine Depew gab Witzel eine Aufgabe mit auf den Weg nach Düsseldorf: Dass in der Ruhrkonferenz von Ministerpräsident Armin Laschet auch "Soziales" und "Kinderarmut" Berücksichtigung fänden.